Samstag, 5. Dezember 2015

Spiegelblick


Leicht macht es das Buch "Mannesalter" von Michel Leiris dem Leser nicht. Es ist eine Autobiografie, anders, als man derlei sonst kennt. Es ist eine unbarmherzige Selbsterforschung. Hier gibt es keine Chronologie, der Alltag fehlt so sehr wie jeder Hinweis auf Ausbildung oder Berufsleben. Man muss schon anderswo nachlesen, was für ein bedeutender Ethnologe der Autor war; seine Bücher über Afrika sind immer noch von Bedeutung. Auch von seinen zahlreichen Freundschaften mit den französischen Surrealisten erfährt man hier nichts.
Die Überschriften der drei Dutzend Kapitel verraten wenig: Alter und Tod; Frauen des Altertums; Bordelle und Museen; Ausgestochene Augen; Das Haupt des Holofernes; Verletzter Fuß; Gebissene Hinterbacke; Aufgeschlagener Kopf und so weiter.
Das klingt nach viel Leid und Unglück, aber auch nach viel Bildung. Tatsächlich – auch dies ist eine Besonderheit – spiegelt sich das Ich hier fortwährend und schon ganz früh in literarischen Figuren des Altertums, der Bibel oder der Klassik. Ein Grundproblem dieses so schonungslos, zuweilen peinlich offenherzig erforschten Ich ist es, dass es den Verdacht nährt, selbst in den existenziellsten Situationen eine "Rolle" zu spielen. Und nicht nur das stimmt den Leser betroffen.
Bei der Frage nach dem Eigenen, dem Begehren, dem Haben kreist fast alles um die Beziehungen zu Frauen. Leiris schildert sich in zahllosen Begebenheiten als höchst kompliziert, widersprüchlich, uneindeutig. Darin liegt der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Realismus, der ihn als wehleidig UND tapfer, als unersättlich UND asketisch, als klug UND verwirrt darstellt. Es gibt keine beruhigenden Schubladen. Nichts an dieser Autobiografie ist verspielt oder ironisch oder oberflächlich. Das Schreiben vergleicht er mit dem Stierkampf: Da geht es um Leben und Tod. Das Nachdenken über sich selbst als Ernstfall. Dennoch: Nach der anstrengenden Lektüre schaut man mit anderen Augen in den Spiegel.
Michel Leiris: Mannesalter

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