Sonntag, 6. Dezember 2015

Doppelte Stastsangehörigkeit


Grossen Kunstwerken sagt man nach, sie vertrügen es, mit zweierlei Augen betrachtet zu werden. In der Tat bringt der Goldne Topf den Bleistift des Gelehrten – was gäbe es da nicht alles anzumerken, nachzuweisen, herbeizuzitieren – nicht weniger in Bewegung als die Phantasie des Lesers auf dem Sofa. Gleichwohl fällt es nicht leicht, das Vergnügen dessen zu erklären, der die Unzahl mythologischer und anderer Anspielungen der zwölf Vigilien nicht beim Namen nennen könnte. Zudem: wenn ein Märchen mit so genauen Angaben über Zeit und Ort anfängt und auch sonst nicht spart mit pünktlicher Genauigkeit der Schilderung, muss man da nicht bangen, es möchte den Sprung vom Alltag ins Zauberreich nicht mehr zuwege bringen? Dies Märchen will sich jedoch – der Untertitel deutet’s an – den Zugang zur Wunderwelt nicht erschwindeln, indem es die wirkliche Welt einfach totschweigt. Es will vielmehr anleiten, der „wirklichen“ Welt skeptischer gegenüberzustehen, Zweifel an ihrer Endgültigkeit anzumelden und in ihr selbst Anknüpfungspunkte an jene andere Welt aufzuspüren.
Hoffmann bringt darin eine Entwicklung auf den Höhepunkt bei der schon seit geraumer Zeit Dichter ihrer Fertigkeit aufgeboten hatten, die Übergänge zwischen alltäglicher und zauberhafter Welt auf höhere Weise plausibel zu machen. Hoffmann bietet mit Fleiß für jede Erscheinung stets eine doppelte Erklärung an: eine hausbackene und eine phantastische; so kann der Leser sich’s aussuchen. Die richtige Wahl zu treffen, nun, das soll eben dies Märchen lehren. So ohne weiteres will das indes nicht gelingen.
Wenn die ehrbare Bürgerfrau den Verdacht äußert, der junge Herr sei wohl nicht ganz bei Troste, schrickt mit dem Helden der Leser zusammen, beide ertappt, sich am helllichten Tag auf’s Träumen eingelassen zu haben. Solche schroffe Überleitungen an Kapitelrändern oder auch gleich mehrfach in ein und dem selbem Abschnitt holen Helden wie Leser abrupt auf den viel berufenen Boden der Tatsachen zurück. Die „Realität“ behauptet ihr Recht, sie lässt es auf einen Kampf ankommen, von kosmischen Ausmaßen, bei dem Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden. Doch was ist jener Kampf anderes als der Streit zwischen dem Prinzip der Nüchternheit des praktischen Lebens und dem Prinzip des Wunschtraums von der harmonischen Entfaltung aller Möglichkeiten in uns? Dass sich auf diese Auseinandersetzung keiner ungestraft, keiner ohne Risiko einlässt, weiß man aus Hoffmanns Leben: seinem Entsetzen vor den Erfindungen der eigenen Phantasie; weiß man aus dem Schicksal vieler Künstler, die sich in einer auf’s Nützliche bedachten Gesellschaft zum Herold des allgemeinen Bürgerrechts im Wunderland machten, und dafür von dieser Gesellschaft in eine Reihe mit den tollpatschigen Tagträumern, Berauschten oder gar Wahnsinnigen gestellt wurden.
Von daher gesehen ist Liebe im Goldnen Topf nicht das übliche Gewürz für den verwöhnten Gaumen des Lesers, sondern Kern und Antrieb des Ganzen, unentbehrliches Band zwischen den Welten. Liebe lehrt mit anderen Augen sehen, von Liebe beschwingte Tagträume, kühnes Phantasieren quer zur Wirklichkeit, das wäre die rechte Haltung, meint Hoffmann, um vom Alltäglichen eine Brücke in die Wunschwelt zu schlagen. Zwar: Liebe macht blind – sagt der Philister, der die Sehnsucht nach einer schöneren Welt zu kurieren meint, wenn er dem Hintern Blutegel appliziert. Seine Lieblingsfarbe ist denn auch das Aktengrau, er will das Feuerwerk der Farben, Düfte und Klänge säuberlich hinter Buchdecken gebannt wissen: als Romanpossen zum Zuklappen und Wegstellen, wenn Gefahr für’s Funktionieren der bürgerlichen Geschäfte entstünde. Der Liebende aber, der Dichter: sie wagen’s.
Georg Eichinger (2.7.1969)

E.T.A. Hoffmann: Der Goldne Topf

Richtig lesen?


Ich tu’s schier unausgesetzt und stocke, wenn ich mir selbst die Frage stelle, ob ich es richtig mache. Richtig? Gibt es nicht viele Arten zu lesen, auch für mich? Eigentlich favorisiere ich nur die eine: konzentrierte Lektüre, die mir hilft, möglichst viel vom Text zu verstehen und im Gedächtnis zu behalten. Drei gewaltige Forderungen, man möchte fast nicht glauben, dass unter solchen Gesichtspunkten Lesen auch noch Spaß macht. Drei Ideale und alle sind meist nur annähernd zu erreichen.

Schon die Konzentration; nicht selten ertappe ich mich beim Überfliegen, beim hastigen Voranstolpern, beim Überspringen. Das sollte eigentlich sogleich Signal für eine Störung sein: dass ich körperlich schon zu ermüdet bin, dass es mir an Verständnis für den Text mangelt, ich keinen Zugang zu ihm finde und nach Stellen suche, bei denen ich wieder Fuß fassen könnte. Ein wichtiges Indiz für eine Inkongruenz, für eine Fremdheit zwischen mir und dem Text.

Das Verstehen: freilich ein asymptotischer Vorgang, ein Prozess, dessen Abgeschlossenheit man schwerlich abschätzen kann. Jedenfalls setzt er wiederholte Lektüre voraus, dreimal mindestens. (Beim ersten mal jagt man nur dem Ende zu: wie geht es aus? Beim zweiten mal gewinnt man schon Einblick in die Gesamtarchitektur, ab dem dritten mal werden Binnenstrukturen, Schönheitsinseln, stilistische Kostbarkeiten, auch Inkonsequenzen sichtbar usw.) Was man versteht, hängt natürlich davon ab, was man schon weiß und zur Verfügung hat. Also literaturwissenschaftliches Handwerk, Kenntnis der Literaturgeschichte(n), der realen Geschichte außerhalb des Buchs. Eigene Menschenkenntnis lässt die Plausibilität der Figurenzeichnung abschätzen, eigene Lebenserfahrung lässt auch, was im Roman fehlt als Lücke erkennen, auch hier: und so weiter.

Kommt die dritte Forderung an „hochwertiges“ Lesen: nicht gleich wieder alles vergessen,- das Feld der bittersten und unleugbarsten Enttäuschungen. Man greift sich ein Buch aus der eigenen Bibliothek, um es „endlich mal“ zu lesen,- und es ist voller Bleistiftstriche, ja gar überfüllt mit Anmerkungen. Und beides, den Buchinhalt wie die damaligen Lesenotizen hat man vergessen. Was hier schwarz auf weiß auf dem Papier steht, in meinem Kopf ist es ausradiert.

Ich bin Sammler, nicht nur von eigenen Büchern, mehr noch von Motiven, heute spricht man lieber von Thematologie als von Motivgeschichte. Lassen wir terminologische Pedanterien beiseite: ob ein Stoff, ein Motiv, ein Thema, eine Iconografie vorliegt oder sonst was, ich freue mich, wenn ich etwas lese, das ich auch schon in einem anderen Buch behandelt gefunden habe. Nun kann man vergleichen und findet gerade durch den Vergleich beim einzelnen Werk mehr Gesichtspunkte, als wenn man es nur für sich gelesen hätte.
Natürlich sind aus der zahllosen Menge möglicher Motive oder Themen einige für mich besonders interessant, zur Zeit vor allem die „Verführung“, weil ich dazu Material sammle.
Doch ich wollte allgemeiner bleiben bei meiner Frage, nach dem „richtigen“ Lesen. Eine besonders ergiebige Methode, die eigene Lektüre reichhaltig zu machen ist das Gespräch darüber. Als echter Dialog mit einem anderen Leser,- auf dem gleichen Niveau des Könnens und Wollens, versteht sich. Aber auch der Monolog, das Selbstgespräch mit sich ist noch eine ergiebige Quelle der Ernte von Lesefrüchten. Sich schriftlich Rechenschaft zu geben, was man bei der Lektüre alles wahrgenommen hat, worum es nach der eigenen Einschätzung überhaupt geht, aber auch: was rätselhaft blieb, unplausibel und gar inakzeptabel. All das nimmt Kontur an, ja wird allererst aus der Flüchtigkeit der Lektüre heraus gemeißelt, wenn man sich dazu Notizen macht. So gehört wohl zum richtigen Lesen auch das wache Schreiben. Sicher ein Positionswechsel: wenn der Leser mit auf der Bühne steht, sitzt der Kritiker im Parkett; dort hat er obendrein die Doppelrolle der Kritik des Buchs und der Kritik seiner Lektüre am Hals.

Eine dritte Rolle sollte man sich nicht entgehen lassen: die des Übersetzers der Lektüre zurück ins eigene Leben. Das bringt freilich neue Fragen ins Licht, die sich unter Umständen in psychologischem Filigran verlieren. Ist es doch schon undurchschaubar genug, wie es geschieht – dass es das tut steht für mich außer Zweifel -, dass man beim schreibenden Rekapitulieren seiner Lektüre viel hinzu gewinnt. Es ist als ob man die en gros heraus gelöste Brocken der Lektüre nun kleiner klopfte, gar auflöste, um sie sich einzuverleiben. Ein Bild, aber es dürfte stimmen.

Und wenn es auch einen Verlust brächte? Liebe machen und danach darüber schreiben sind ja auch zwei verdammt unterschiedliche Paar Stiefel. Könnte es sein, dass die Reflexion die Lektüre verwässert, dass der Geist des Textes, den man in sich einrauschen ließ nun, zieht man ihn auf Flaschen, „umkippt“? Schreibend muss man einsortieren, in Kästchen zwängen, in das Korsett der eigenen Sprache zwängen, was bei der Lektüre wie die Landschaft am Zug vorbei strömte. Sicherlich, wenn die zwei Zeilen aus der Lexikoninhaltsangabe übrig bleiben, wenn das eigene Erleben mit dem Text nicht zum Zug kommt, dann: Buch ade.
Das ist natürlich schon minutiös erforscht; ich weiß davon leider fast nichts. Aber ich beharre: „begreifen, was ergreift“, sich Rechenschaft über die Leseerfahrungen, Leseerlebnisse zu geben, bringt mehr Gewinn als Schaden. Es gehört zum „richtigen“ Lesen dazu.
Georg Eichinger


Lesezeichen I



Samstag, 5. Dezember 2015

Spiegelblick


Leicht macht es das Buch "Mannesalter" von Michel Leiris dem Leser nicht. Es ist eine Autobiografie, anders, als man derlei sonst kennt. Es ist eine unbarmherzige Selbsterforschung. Hier gibt es keine Chronologie, der Alltag fehlt so sehr wie jeder Hinweis auf Ausbildung oder Berufsleben. Man muss schon anderswo nachlesen, was für ein bedeutender Ethnologe der Autor war; seine Bücher über Afrika sind immer noch von Bedeutung. Auch von seinen zahlreichen Freundschaften mit den französischen Surrealisten erfährt man hier nichts.
Die Überschriften der drei Dutzend Kapitel verraten wenig: Alter und Tod; Frauen des Altertums; Bordelle und Museen; Ausgestochene Augen; Das Haupt des Holofernes; Verletzter Fuß; Gebissene Hinterbacke; Aufgeschlagener Kopf und so weiter.
Das klingt nach viel Leid und Unglück, aber auch nach viel Bildung. Tatsächlich – auch dies ist eine Besonderheit – spiegelt sich das Ich hier fortwährend und schon ganz früh in literarischen Figuren des Altertums, der Bibel oder der Klassik. Ein Grundproblem dieses so schonungslos, zuweilen peinlich offenherzig erforschten Ich ist es, dass es den Verdacht nährt, selbst in den existenziellsten Situationen eine "Rolle" zu spielen. Und nicht nur das stimmt den Leser betroffen.
Bei der Frage nach dem Eigenen, dem Begehren, dem Haben kreist fast alles um die Beziehungen zu Frauen. Leiris schildert sich in zahllosen Begebenheiten als höchst kompliziert, widersprüchlich, uneindeutig. Darin liegt der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Realismus, der ihn als wehleidig UND tapfer, als unersättlich UND asketisch, als klug UND verwirrt darstellt. Es gibt keine beruhigenden Schubladen. Nichts an dieser Autobiografie ist verspielt oder ironisch oder oberflächlich. Das Schreiben vergleicht er mit dem Stierkampf: Da geht es um Leben und Tod. Das Nachdenken über sich selbst als Ernstfall. Dennoch: Nach der anstrengenden Lektüre schaut man mit anderen Augen in den Spiegel.
Michel Leiris: Mannesalter

Donnerstag, 26. November 2015

Menschheitsentwicklung


Lieber Georg,
zum Wochenende waren Barbara und ich mit Freunden aus Freiburg zu unserem traditionellen Herbsttreffen in Halle, eine schöne und kulturreiche Stadt. Allein schon das dortige Prähistorische Museum, angeblich das größte Europas ist die Reise wert und könnte einen mit seiner modernen Museumspädagogik und der wunderbaren Himmelsscheibe aus Nebra einen ganzen Tag fesseln.
In unruhigen und bedrohlichen Zeiten geht es mir so, dass ich Halt finde in der Einsicht in größere Zusammenhänge. Eine Entdeckung im Museumsshop war hier das Buch des israelischen Universalgeschichtlers Yuval Noah Harari "Eine kurze Geschichte der Menschheit" (na ja, immerhin gut 500 Seiten!). Harari beschreibt darin sehr unkonventionell und kenntnisreich die drei großen Revolutionen der Menscheitsentwicklung und ihre Folgen: Kognitive Revolution (Erfindung der menschlichen Sprache vor 70 000 Jahren), Agrarische Revolution vor 10 000 Jahren, Wissenschaftliche Revolution vor 500 Jahren. Etwas flapsige Sachbuch-Sprache, manchmal überspitzte Beispiele, aber gut lesbar und sehr erhellend.
Heiner Legewie

Yuval Noah Harari
Eine kurze Geschichte der Menschheit

Mittwoch, 25. November 2015

Ränderleben


Nun habe ich Herrndorfs letzten, unvollendeten Roman gelesen: Bilder deiner großen Liebe. Am Ende ein sehr anstrengendes Buch, wie ich finde, voller Bedrohlichkeit. Dabei ist so vieles lustig und auch sehr witzig; Galgenhumor, muss man wohl sagen. Das Mädchen, aus der Klappse wie sie sagt geflohen und auf Pilgerschaft zu ihrem Vater. Sie ist immer mit Rändern in Verbindung: solchen der bewohnten Räume, auch viel nachts. Und dann vor allem mit Menschen aus Randgruppen. Einige – wie sie selber – nur schrullig; viele in sich verkrallt. Nicht wenige auch ekelig, penetrant. Jedenfalls immer unaufmerksam, desinteressiert. Bedrohlich in ihrem Egoismus.-
Ein wenig Sehnsucht nach Zivilisationsabstand, Wald bei der Nacht, schlafende Dörfer, zu Fuß marschieren usw hab ich schon gespürt. Aber hier wird gleich klar, dass das kein Kinderspiel ist. Das ist nicht Leben, sondern Überleben, mit Schmerzen und Gefahr. Man muss sich hüten, kitschig zu werden und so ein gestörtes, zerstörtes Leben zu romantisieren. Jedenfalls wieder eine eindrucksvolle künstlerische Leistung dieses unglücklichen Autors.

Wolfgang Herrndorf
Bilder deiner großen Liebe