Sonntag, 6. Dezember 2015

Doppelte Stastsangehörigkeit


Grossen Kunstwerken sagt man nach, sie vertrügen es, mit zweierlei Augen betrachtet zu werden. In der Tat bringt der Goldne Topf den Bleistift des Gelehrten – was gäbe es da nicht alles anzumerken, nachzuweisen, herbeizuzitieren – nicht weniger in Bewegung als die Phantasie des Lesers auf dem Sofa. Gleichwohl fällt es nicht leicht, das Vergnügen dessen zu erklären, der die Unzahl mythologischer und anderer Anspielungen der zwölf Vigilien nicht beim Namen nennen könnte. Zudem: wenn ein Märchen mit so genauen Angaben über Zeit und Ort anfängt und auch sonst nicht spart mit pünktlicher Genauigkeit der Schilderung, muss man da nicht bangen, es möchte den Sprung vom Alltag ins Zauberreich nicht mehr zuwege bringen? Dies Märchen will sich jedoch – der Untertitel deutet’s an – den Zugang zur Wunderwelt nicht erschwindeln, indem es die wirkliche Welt einfach totschweigt. Es will vielmehr anleiten, der „wirklichen“ Welt skeptischer gegenüberzustehen, Zweifel an ihrer Endgültigkeit anzumelden und in ihr selbst Anknüpfungspunkte an jene andere Welt aufzuspüren.
Hoffmann bringt darin eine Entwicklung auf den Höhepunkt bei der schon seit geraumer Zeit Dichter ihrer Fertigkeit aufgeboten hatten, die Übergänge zwischen alltäglicher und zauberhafter Welt auf höhere Weise plausibel zu machen. Hoffmann bietet mit Fleiß für jede Erscheinung stets eine doppelte Erklärung an: eine hausbackene und eine phantastische; so kann der Leser sich’s aussuchen. Die richtige Wahl zu treffen, nun, das soll eben dies Märchen lehren. So ohne weiteres will das indes nicht gelingen.
Wenn die ehrbare Bürgerfrau den Verdacht äußert, der junge Herr sei wohl nicht ganz bei Troste, schrickt mit dem Helden der Leser zusammen, beide ertappt, sich am helllichten Tag auf’s Träumen eingelassen zu haben. Solche schroffe Überleitungen an Kapitelrändern oder auch gleich mehrfach in ein und dem selbem Abschnitt holen Helden wie Leser abrupt auf den viel berufenen Boden der Tatsachen zurück. Die „Realität“ behauptet ihr Recht, sie lässt es auf einen Kampf ankommen, von kosmischen Ausmaßen, bei dem Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden. Doch was ist jener Kampf anderes als der Streit zwischen dem Prinzip der Nüchternheit des praktischen Lebens und dem Prinzip des Wunschtraums von der harmonischen Entfaltung aller Möglichkeiten in uns? Dass sich auf diese Auseinandersetzung keiner ungestraft, keiner ohne Risiko einlässt, weiß man aus Hoffmanns Leben: seinem Entsetzen vor den Erfindungen der eigenen Phantasie; weiß man aus dem Schicksal vieler Künstler, die sich in einer auf’s Nützliche bedachten Gesellschaft zum Herold des allgemeinen Bürgerrechts im Wunderland machten, und dafür von dieser Gesellschaft in eine Reihe mit den tollpatschigen Tagträumern, Berauschten oder gar Wahnsinnigen gestellt wurden.
Von daher gesehen ist Liebe im Goldnen Topf nicht das übliche Gewürz für den verwöhnten Gaumen des Lesers, sondern Kern und Antrieb des Ganzen, unentbehrliches Band zwischen den Welten. Liebe lehrt mit anderen Augen sehen, von Liebe beschwingte Tagträume, kühnes Phantasieren quer zur Wirklichkeit, das wäre die rechte Haltung, meint Hoffmann, um vom Alltäglichen eine Brücke in die Wunschwelt zu schlagen. Zwar: Liebe macht blind – sagt der Philister, der die Sehnsucht nach einer schöneren Welt zu kurieren meint, wenn er dem Hintern Blutegel appliziert. Seine Lieblingsfarbe ist denn auch das Aktengrau, er will das Feuerwerk der Farben, Düfte und Klänge säuberlich hinter Buchdecken gebannt wissen: als Romanpossen zum Zuklappen und Wegstellen, wenn Gefahr für’s Funktionieren der bürgerlichen Geschäfte entstünde. Der Liebende aber, der Dichter: sie wagen’s.
Georg Eichinger (2.7.1969)

E.T.A. Hoffmann: Der Goldne Topf

Richtig lesen?


Ich tu’s schier unausgesetzt und stocke, wenn ich mir selbst die Frage stelle, ob ich es richtig mache. Richtig? Gibt es nicht viele Arten zu lesen, auch für mich? Eigentlich favorisiere ich nur die eine: konzentrierte Lektüre, die mir hilft, möglichst viel vom Text zu verstehen und im Gedächtnis zu behalten. Drei gewaltige Forderungen, man möchte fast nicht glauben, dass unter solchen Gesichtspunkten Lesen auch noch Spaß macht. Drei Ideale und alle sind meist nur annähernd zu erreichen.

Schon die Konzentration; nicht selten ertappe ich mich beim Überfliegen, beim hastigen Voranstolpern, beim Überspringen. Das sollte eigentlich sogleich Signal für eine Störung sein: dass ich körperlich schon zu ermüdet bin, dass es mir an Verständnis für den Text mangelt, ich keinen Zugang zu ihm finde und nach Stellen suche, bei denen ich wieder Fuß fassen könnte. Ein wichtiges Indiz für eine Inkongruenz, für eine Fremdheit zwischen mir und dem Text.

Das Verstehen: freilich ein asymptotischer Vorgang, ein Prozess, dessen Abgeschlossenheit man schwerlich abschätzen kann. Jedenfalls setzt er wiederholte Lektüre voraus, dreimal mindestens. (Beim ersten mal jagt man nur dem Ende zu: wie geht es aus? Beim zweiten mal gewinnt man schon Einblick in die Gesamtarchitektur, ab dem dritten mal werden Binnenstrukturen, Schönheitsinseln, stilistische Kostbarkeiten, auch Inkonsequenzen sichtbar usw.) Was man versteht, hängt natürlich davon ab, was man schon weiß und zur Verfügung hat. Also literaturwissenschaftliches Handwerk, Kenntnis der Literaturgeschichte(n), der realen Geschichte außerhalb des Buchs. Eigene Menschenkenntnis lässt die Plausibilität der Figurenzeichnung abschätzen, eigene Lebenserfahrung lässt auch, was im Roman fehlt als Lücke erkennen, auch hier: und so weiter.

Kommt die dritte Forderung an „hochwertiges“ Lesen: nicht gleich wieder alles vergessen,- das Feld der bittersten und unleugbarsten Enttäuschungen. Man greift sich ein Buch aus der eigenen Bibliothek, um es „endlich mal“ zu lesen,- und es ist voller Bleistiftstriche, ja gar überfüllt mit Anmerkungen. Und beides, den Buchinhalt wie die damaligen Lesenotizen hat man vergessen. Was hier schwarz auf weiß auf dem Papier steht, in meinem Kopf ist es ausradiert.

Ich bin Sammler, nicht nur von eigenen Büchern, mehr noch von Motiven, heute spricht man lieber von Thematologie als von Motivgeschichte. Lassen wir terminologische Pedanterien beiseite: ob ein Stoff, ein Motiv, ein Thema, eine Iconografie vorliegt oder sonst was, ich freue mich, wenn ich etwas lese, das ich auch schon in einem anderen Buch behandelt gefunden habe. Nun kann man vergleichen und findet gerade durch den Vergleich beim einzelnen Werk mehr Gesichtspunkte, als wenn man es nur für sich gelesen hätte.
Natürlich sind aus der zahllosen Menge möglicher Motive oder Themen einige für mich besonders interessant, zur Zeit vor allem die „Verführung“, weil ich dazu Material sammle.
Doch ich wollte allgemeiner bleiben bei meiner Frage, nach dem „richtigen“ Lesen. Eine besonders ergiebige Methode, die eigene Lektüre reichhaltig zu machen ist das Gespräch darüber. Als echter Dialog mit einem anderen Leser,- auf dem gleichen Niveau des Könnens und Wollens, versteht sich. Aber auch der Monolog, das Selbstgespräch mit sich ist noch eine ergiebige Quelle der Ernte von Lesefrüchten. Sich schriftlich Rechenschaft zu geben, was man bei der Lektüre alles wahrgenommen hat, worum es nach der eigenen Einschätzung überhaupt geht, aber auch: was rätselhaft blieb, unplausibel und gar inakzeptabel. All das nimmt Kontur an, ja wird allererst aus der Flüchtigkeit der Lektüre heraus gemeißelt, wenn man sich dazu Notizen macht. So gehört wohl zum richtigen Lesen auch das wache Schreiben. Sicher ein Positionswechsel: wenn der Leser mit auf der Bühne steht, sitzt der Kritiker im Parkett; dort hat er obendrein die Doppelrolle der Kritik des Buchs und der Kritik seiner Lektüre am Hals.

Eine dritte Rolle sollte man sich nicht entgehen lassen: die des Übersetzers der Lektüre zurück ins eigene Leben. Das bringt freilich neue Fragen ins Licht, die sich unter Umständen in psychologischem Filigran verlieren. Ist es doch schon undurchschaubar genug, wie es geschieht – dass es das tut steht für mich außer Zweifel -, dass man beim schreibenden Rekapitulieren seiner Lektüre viel hinzu gewinnt. Es ist als ob man die en gros heraus gelöste Brocken der Lektüre nun kleiner klopfte, gar auflöste, um sie sich einzuverleiben. Ein Bild, aber es dürfte stimmen.

Und wenn es auch einen Verlust brächte? Liebe machen und danach darüber schreiben sind ja auch zwei verdammt unterschiedliche Paar Stiefel. Könnte es sein, dass die Reflexion die Lektüre verwässert, dass der Geist des Textes, den man in sich einrauschen ließ nun, zieht man ihn auf Flaschen, „umkippt“? Schreibend muss man einsortieren, in Kästchen zwängen, in das Korsett der eigenen Sprache zwängen, was bei der Lektüre wie die Landschaft am Zug vorbei strömte. Sicherlich, wenn die zwei Zeilen aus der Lexikoninhaltsangabe übrig bleiben, wenn das eigene Erleben mit dem Text nicht zum Zug kommt, dann: Buch ade.
Das ist natürlich schon minutiös erforscht; ich weiß davon leider fast nichts. Aber ich beharre: „begreifen, was ergreift“, sich Rechenschaft über die Leseerfahrungen, Leseerlebnisse zu geben, bringt mehr Gewinn als Schaden. Es gehört zum „richtigen“ Lesen dazu.
Georg Eichinger


Lesezeichen I



Samstag, 5. Dezember 2015

Spiegelblick


Leicht macht es das Buch "Mannesalter" von Michel Leiris dem Leser nicht. Es ist eine Autobiografie, anders, als man derlei sonst kennt. Es ist eine unbarmherzige Selbsterforschung. Hier gibt es keine Chronologie, der Alltag fehlt so sehr wie jeder Hinweis auf Ausbildung oder Berufsleben. Man muss schon anderswo nachlesen, was für ein bedeutender Ethnologe der Autor war; seine Bücher über Afrika sind immer noch von Bedeutung. Auch von seinen zahlreichen Freundschaften mit den französischen Surrealisten erfährt man hier nichts.
Die Überschriften der drei Dutzend Kapitel verraten wenig: Alter und Tod; Frauen des Altertums; Bordelle und Museen; Ausgestochene Augen; Das Haupt des Holofernes; Verletzter Fuß; Gebissene Hinterbacke; Aufgeschlagener Kopf und so weiter.
Das klingt nach viel Leid und Unglück, aber auch nach viel Bildung. Tatsächlich – auch dies ist eine Besonderheit – spiegelt sich das Ich hier fortwährend und schon ganz früh in literarischen Figuren des Altertums, der Bibel oder der Klassik. Ein Grundproblem dieses so schonungslos, zuweilen peinlich offenherzig erforschten Ich ist es, dass es den Verdacht nährt, selbst in den existenziellsten Situationen eine "Rolle" zu spielen. Und nicht nur das stimmt den Leser betroffen.
Bei der Frage nach dem Eigenen, dem Begehren, dem Haben kreist fast alles um die Beziehungen zu Frauen. Leiris schildert sich in zahllosen Begebenheiten als höchst kompliziert, widersprüchlich, uneindeutig. Darin liegt der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Realismus, der ihn als wehleidig UND tapfer, als unersättlich UND asketisch, als klug UND verwirrt darstellt. Es gibt keine beruhigenden Schubladen. Nichts an dieser Autobiografie ist verspielt oder ironisch oder oberflächlich. Das Schreiben vergleicht er mit dem Stierkampf: Da geht es um Leben und Tod. Das Nachdenken über sich selbst als Ernstfall. Dennoch: Nach der anstrengenden Lektüre schaut man mit anderen Augen in den Spiegel.
Michel Leiris: Mannesalter

Donnerstag, 26. November 2015

Menschheitsentwicklung


Lieber Georg,
zum Wochenende waren Barbara und ich mit Freunden aus Freiburg zu unserem traditionellen Herbsttreffen in Halle, eine schöne und kulturreiche Stadt. Allein schon das dortige Prähistorische Museum, angeblich das größte Europas ist die Reise wert und könnte einen mit seiner modernen Museumspädagogik und der wunderbaren Himmelsscheibe aus Nebra einen ganzen Tag fesseln.
In unruhigen und bedrohlichen Zeiten geht es mir so, dass ich Halt finde in der Einsicht in größere Zusammenhänge. Eine Entdeckung im Museumsshop war hier das Buch des israelischen Universalgeschichtlers Yuval Noah Harari "Eine kurze Geschichte der Menschheit" (na ja, immerhin gut 500 Seiten!). Harari beschreibt darin sehr unkonventionell und kenntnisreich die drei großen Revolutionen der Menscheitsentwicklung und ihre Folgen: Kognitive Revolution (Erfindung der menschlichen Sprache vor 70 000 Jahren), Agrarische Revolution vor 10 000 Jahren, Wissenschaftliche Revolution vor 500 Jahren. Etwas flapsige Sachbuch-Sprache, manchmal überspitzte Beispiele, aber gut lesbar und sehr erhellend.
Heiner Legewie

Yuval Noah Harari
Eine kurze Geschichte der Menschheit

Mittwoch, 25. November 2015

Ränderleben


Nun habe ich Herrndorfs letzten, unvollendeten Roman gelesen: Bilder deiner großen Liebe. Am Ende ein sehr anstrengendes Buch, wie ich finde, voller Bedrohlichkeit. Dabei ist so vieles lustig und auch sehr witzig; Galgenhumor, muss man wohl sagen. Das Mädchen, aus der Klappse wie sie sagt geflohen und auf Pilgerschaft zu ihrem Vater. Sie ist immer mit Rändern in Verbindung: solchen der bewohnten Räume, auch viel nachts. Und dann vor allem mit Menschen aus Randgruppen. Einige – wie sie selber – nur schrullig; viele in sich verkrallt. Nicht wenige auch ekelig, penetrant. Jedenfalls immer unaufmerksam, desinteressiert. Bedrohlich in ihrem Egoismus.-
Ein wenig Sehnsucht nach Zivilisationsabstand, Wald bei der Nacht, schlafende Dörfer, zu Fuß marschieren usw hab ich schon gespürt. Aber hier wird gleich klar, dass das kein Kinderspiel ist. Das ist nicht Leben, sondern Überleben, mit Schmerzen und Gefahr. Man muss sich hüten, kitschig zu werden und so ein gestörtes, zerstörtes Leben zu romantisieren. Jedenfalls wieder eine eindrucksvolle künstlerische Leistung dieses unglücklichen Autors.

Wolfgang Herrndorf
Bilder deiner großen Liebe

Samstag, 24. November 2012

Himmelskunde, volksgetümelt?

Der Kosmos so groß und der Mensch - ach - so klein.
Bruno H. Bürgels volkstümliche Himmels-Kunde "Aus fernen Welten"



aber könnten wir Jahrtausende zu Sekunden machen,
wir sähen die Sterne aufglimmen wie Leuchtkäfer
im abendlichen Wald,
sähen sie heller und heller sich entzünden
und wieder dunkler werden,
sprühen und verglühen wie glimmende Kohle
auf dem armseligen Herdfeuer,
und in Nacht versinken.
Sie kommen, sie gehen wie wir
(Aus fernen Welten, S. 3)


1
Gleich im ersten Satz des Vorworts eine Definition, an der nichts auszusetzen ist, und doch hat der Satz schon das unverkennbare Bürgel-Tremolo: „Die Astronomie ist die Wissenschaft von den leuchtenden Sternen am dunklen Himmelsgrunde.“ Man beachte das poetisch schwingende Dativ-„e“, und wenn es weitergeht mit: „liegt doch in ihr außerordentlich viel Erhabenes und Poetisches“, sollte man eingestimmt sein.
Auslöser für dieses außerordentlich erfolgreiche Buch war die bevorstehende Wiederkehr des Kometen Halley im Jahr 1910. Zu diesem Anlass verfasste Bürgel eine 32-seitige Aufklärungsbroschüre, die sich vor allem gegen die damals einmal mehr verbreitete Weltuntergangsfurcht richtete. Rasch komplettierte er seine winzige Einführung zu einem umfangreichen, umfassend informierenden Sachbuch, das noch im selben Jahr auf den Markt kam.
Es hat seither acht Übersetzungen in andere Sprachen erlebt (darunter englisch, französisch, niederländisch, tschechisch usw.) und wiederholte Neuauflagen. Ab 1939 hat es einen beträchtlichen Zuwachs an Bildern bekommen (280 Illustrationen und 48 Tafeln), der von Auflage zu Auflage angeschwollen ist und auch von der jeweils verbesserten Abbildungsqualität profitiert hat.

Doch zurück zum Anfang: Es ist die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, vor den Revolutionen, vor der ersten deutschen Demokratie; es erscheinen Rilkes Malte, Scheerbarts Perpetuum mobile, Marinettis Malfarka, Däublers Nordlicht. Marc und Kandinski arbeiten am Blauen Reiter, ringsum tobt der Expressionismus und beschwört den Untergang einer alten und die Heraufkunft einer neuen Epoche. Und Bürgel, der kommende Erfolgsschriftsteller – ist er up to date?
Wohl wendet er sich immer an beide Geschlechter und hat – einzigartig damals und heute noch nicht selbstverständlich – ein ganzes Kapitel über Frauen in der Astronomie. (Erst eineinhalb Jahrzehnte zuvor sind Frauen an den Unis als Gasthörer (!) zugelassen worden). Up to date ist er aber auf eine Weise, die geradezu unscheinbar einen Wechsel in der Geschichte des populären Sachbuchs markiert. Würde man erwarten, dass er im Vorwort ankündigt, nicht belehren, sondern unterhalten zu wollen, so schreibt er stattdessen: „Ich will nicht belehren, sondern belehrend unterhalten“.
In Wahrheit liegt sein Schwerpunkt nicht auf der Unterhaltung, vielmehr geht es ihm um „Volksbildung“, freilich in einem sehr emphatischen Sinn. Diese Volksbildung ist in seinen Augen „einer der wichtigsten Faktoren zur Lösung der sozialen Frage“. Mit dem Anwachsen dieser so verstandenen Volksbildung müssen „Haß, Mißachtung, Mißverstehen weichen“. Sein eigentliches Ziel, und dafür scheint ihm Astronomie besonders geeignet, ist also, um es modisch zu formulieren, Mentalitätsbildung. Bürgel hätte sicher das Wort „Gemüt“ bevorzugt.

Und noch eine Einschränkung kann man aus diesem Vorwort herauslesen, die dann sein Œuvre Buch um Buch einlösen soll: Er glaubt fest daran, dass er einer bestimmten sozialen Schicht, sonst vernachlässigt und obendrein von der Bildung ausgeschlossen, durch seine Publikationen Ersatz schaffen kann. Zielpublikum ist „der arbeitende Mann, die werktätige Frau, die des Abends, nach vollbrachtem Tagewerk müde und abgespannt von der staubigen Maschine des harten Alltags kommen und noch einige Zeit für eine Lektüre, die sie für Momente über die Unrast und Sorge des Tages hinaushebt, übrig haben“.
Populär schreiben heißt also für ihn nicht so zu schreiben, „dass Leute, die eine höhere Schulbildung genossen haben, den Erörterungen noch folgen können“. „Sinnloses Wissen“ – und das heißt für Bürgel: Wissen ohne Bezug zur Sinnfrage der eigenen Existenz – interessiert ihn nicht. Gleich im Vorwort bestimmt Bürgel das Wissen, das Sinn macht: Es geht um die „Bildung im höheren Sinne“. Gelehrt wird dafür nicht Wissen, sondern „Bescheidenheit und Würde“. „Durch all meine Arbeiten“, schreibt Bürgel in seiner Autobiografie, „zog sich als roter Faden immer die Tendenz, nicht nur zu belehren, sondern auch zu erheben, eine kosmische Weltanschauung aufzubauen, das ethische Moment, das in der Be-trachtung der Sternenwelt liegt, herauszuarbeiten.“ Die lange Erbschaft des „Erhabenen“, mit dem man die Sternenwelt seit je angefüllt hatte, kam diesem Unternehmen natürlich entgegen wie kaum ein anderer Stoff.

2
Sachbuchforscher, zumal germanistische, neigen dazu, sich rasch auf die Formen eines Sachbuchs zu stürzen, den Inhalt aber gern am Rande liegen zu lassen. Damit tut man Bürgel Unrecht. In den 28 Kapiteln seiner Volkstümlichen Himmels-Kunde stellt er auf 430 Seiten immerhin das gesamte Gebäude der Astronomie dar, jedenfalls das konventionelle Wissen des 19. Jahrhunderts. Dass 1910 die Einsteinsche Relativitätstheorie schon seit fünf Jahren vorliegt, die Quantentheorie Plancks seit zehn Jahren entworfen ist, und Bürgel doch kein Wort von beiden schreibt, ist erstaunlich. Ist Bürgel doch nicht ganz auf der Höhe der Zeit?
Andre vergleichbare Bücher aus jener Epoche sind da weniger zurückhaltend; ob sie allerdings verständlich bleiben, ist eine andere Frage.
Modernität beweist Bürgel auf ganz andere Weise: Immerhin gibt es heute, fast ein Jahrhundert später, wohl kein Buch, das so umfassend, so verständlich, so quallos in das Grundwissen der Astronomie einführt. Es ist erstaunlich, mit welchen Tricks, mit welchen Stilmitteln, mit welcher die Lektüre lenkenden Pfiffigkeit er sein Werk der Volksbildung am ermüdeten Arbeiter in Gang setzt.
Erstaunlich zum Beispiel wie polyphon Bürgel seinen Text ins Graphische einbettet. Kaum ein Sachbuchautor hat alle optischen Mittel derart ausgeschöpft, so viele Register des Lay-out gezogen, um dem Text über die Gestaltung Obertöne hinzuzufügen: Denn die zahlreichen Elemente der Seitengestaltung in den "Fernen Welten" dienen keineswegs nur der Lesbarkeit des Textes. Es geht auf allen Ebenen um Beglaubigung. Es gibt kein Namens-, kein Sachregister, kein Abbildungsverzeichnis, geschweige denn Nachweise für die Fotos, Zeichnungen, Grafiken, wie ja auch die zahlreich eingestreuten Gedichte ohne Titel und ohne Verfasser daherkommen, als würde Bürgel tatsächlich erwarten, dass der Leser die Texte sogar noch im Ausschnitt wieder erkennt. Natürlich baut er nicht auf auf die Schulbildung „des arbeitenden Mannes, der werktätigen Frau“. Ihm reicht der Nimbus der Gedichte.
Teils wird es gesagt, unausgesetzt aber wird es getan: Buchschmuck und Poesie beglaubigen die Informationen. Die Sachaussagen lassen sich von einem nicht so sehr naturwissenschaftlichen als vielmehr „kulturellen“ Ambiente bestätigen. Da sind die zahlreichen Motti aus Gedichten, fast auf jeder Seite längere Zitate, die das eben Ausgeführte resümieren oder auf Kommendes einstimmen. Plausibilisierung also nicht durch Fakten, schon gar nicht durch Zahlen oder Formeln, sondern durch „Poesie“.
Bürgel betont immer wieder, dass er eine Ader zur Poesie habe. Das will er in seinen Stimmungsbildern unter Beweis stellen; in seinem mal neckisch, oft verschroben, nicht selten kindlich tremolierendem Deutsch. Unverkennbar die Anleihen bei Raabe. Da gibt es Märchenanklänge wie „ei nun“; er verspricht in einer Überschrift „allerlei Details“, fragt „von wannen“ eine Erkenntnis komme. Auch die häufigen drei Gedankenstriche, vibrierend ins Unabschließbare, Rätselhafte, eben zum Nachdenken auffordernd, kommen aus „poetischen“ Gattungen in die Sachliteratur, um sie zu veredeln.
Es gibt Wortwiederholungen, lyrisierende Genitivumstellungen („der Sonne Glut“) und natürlich insgesamt einen gesuchten Wortschatz, vor allem bei Naturbeschreibungen, mit denen die Stimmung des Lesers angewärmt werden soll. Noch die schmucken Sternchen, mit denen er seinen Text dekoriert, erinnern an Gedichtanthologien.
In dem großen Bildungskampf der „zwei Kulturen“ des 19. Jahrhunderts wirft er auf diese Weise noch einmal das Prestige der „klassischen“ Bildung in die Waagschale. Am Ende aber gießt er damit den neuen Wein der Naturwissenschaft in die alten Schläuche einer zerkauten Literatursprache, die vom Expressionismus ebenso wie von der Neuen Sachlichkeit gänzlich unberührt bleibt.

3
Wie sehr sich Bürgel nicht nur als poetisierender Übersetzer von Fachwissen für Nichteingeweihte versteht, sondern zum ausdrücklichen Geschichtenerzähler berufen fühlt, zeigt ein Blick auf sein belletristisches Œuvre. Auch da bleibt er bei seinem Thema. In seinem autobiografisch eingefärbten Roman "Sterne über den Gassen" schickt er einen abgebrochenen Studenten in eine Privatsternwarte; im "Stern von Afrika" versucht er sich mit Sience Fiction: Im Jahre 3000 – mit der Erde geht es zu Ende, weil eine Staubwolke eine Eiszeit herbeigeführt hat – lässt er einen Forscher zum Mond fliegen, um aus der Geschichte der dortigen, allerdings schon ausgestorbenen Lebewesen für die Zivilisationsgeschichte auf der Erde zu lernen.
Auch als Jugendschriftsteller versucht er sich, wie mit allem, was er damals publiziert, sehr erfolgreich: 300 000er Auflagen sind für Bürgel Standard. Interessant, dass er in diesen Romanen das Gerüst des Erzählerischen keineswegs nur benutzt, um naturwissenschaftliche Zusammenhänge in Szene zu setzen. Vielmehr gibt es jede Menge Passagen, die nicht funktional eingebunden sind und ohne Fingerzeig auskommen. Doch sind die Sonderlinge etwa in "Sterne über den Gassen" letztlich nicht mehr als verschlissene Figuren aus einer kraftlosen E.T.A. Hoffmann-Erzählung und einer schwach imitierten Sperlingsgasse.

Warum etwa, fragt man sich, dämonisiert Bürgel in seinem Sternwartenroman den Astronomen und verleiht ihm schrullige Züge bis zur Obsession, da er sich doch sonst in seinem naturwissenschaftlichen Erklärwerk, zentral aber in "Aus fernen Welten" alle Mühe gibt, das zwar erregende, aber Fleiß, Genauigkeit, Hartnäckigkeit, also intensive Bürgerlichkeit erfordernde Tun sichtbar zu machen? Ich meine, das ist der Gattungsdruck eines Romans; da behilft Bürgel sich mit einem Frankenstein aus der Rumpelkiste, weil es ihm nicht gegeben ist, einen wissenschaftlichen Pedanten „faszinierend“ darzustellen. Die Art von Poesie, mit der Bürgel seinen Stoff einwickelt, durchtränkt, beglaubigt, darreicht, hat also mindestens zwei Schönheitsfehler:
Es gelingt ihm erstens nicht, eine neue, zeitgemäße Literatursprache für sein naturwissenschaftliches Sujet zu schaffen. Und zweitens nährt er das Misstrauen der Fachwissenschaftler gegen derlei „Übersetzung“ ihrer Erkenntnisse und Forschungen. Bürgel überwindet damit gerade nicht die Kluft zwischen den „zwei Kulturen“, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: literarisch – zumindest im Sinne der Hochliteratur – zweitrangig und wissenschaftlich rückständig, läßt er den Graben zwischen beiden erst sichtbar werden.

Werfen wir einen Blick auf die Gliederung seiner Einführung in die Astronomie. 28 Kapitel verlocken zur Lektüre mit Titeln wie "Ein Blick in die Unendlichkeit"; "Frauen als Astronomen"; "Ein seltsamer Lichtschein"; "Liliputanerwelt"; "Steine, die vom Himmel fallen"; "Wie man sich am Sternenhimmel zurechtfindet".
Ein Vortext verspricht jeweils weitere Binnengliederung. Allerdings geben sich auch diese Vorschauen rätselhaft, sie informieren nicht, sondern wollen locken. Einige Beispiele: "Eines Königs Briefbeschwerer"; "Die Geschichte des Steins in meiner Busennadel"; "Des Försters Lieblingsstern;" "Der schwarze Tropfe" und immer so weiter.
Jedes Kapitel versammelt Aussagen zu einem bestimmten Aspekt der Astronomie, doch sind diese Kapitel in ihrer Reihenfolge austauschbar. Tatsächlich fehlt eine Gesamtstruktur des Buchs. Keine Großdramaturgie schafft Spannung. Bürgel, der sonst nichts auslässt, verzichtet auf diesen so wirksamen Zug von Unterhaltung und Didaktik offensichtlich, um den erschöpften Arbeiter nicht damit zu erschrecken, er müsse das dicke Buch von Anfang bis zum Ende studieren. Und so hält sich Bürgel in seinem Erzählverfahren lieber an die kleinen Portionen des Feuilletons, in dem er sich gut auskennt, weil er selbst so oft dafür geschrieben hat.

Um ihre Anschaulichkeit zu steigern, sind Bürgels Texte von Metaphern übersät, wie ein Apfel, der mit Bakterien übertupft ist, um eins seiner Lieblingsbilder zu benutzen – womit der Autor nimmermüd’ veranschaulichen will, welche Ähnlichkeiten zwischen uns Menschen und diesen Bakterien besteht, weil wir beide, sie und wir, davon ausgehen, dass wir auf unserer Kugel der Mittelpunkt der Welt sind.
Bei Bürgel hängt „das silberne Wächterhorn des Mondes“ am Himmel, die Sterne „glimmen auf wie Leuchtkäfer im abendlichen Wald“, die Planeten „scharen sich um die Sonne wie Küchlein um die Henne“, der Mond umkreist die Erde „wie der Hund den Herrn“; er spricht von der „steinernen Haut“ unserer Erde; das Prisma nennt er „einen Schlüssel, der ins Zauberschloß des Lichts eindrang“. Und noch ein letztes Beispiel: „Langsam sinkt das Tagesgestirn, es kommt die Kühle des Abends, die Blumen schließen ihre Kelche, die Vögel schlafen in den Bäumen, in rote Wolkenfahnen gehüllt, ein sterbender Held, versinkt die Sonne, und im Sternenmantel steigt die Nacht aus nebeligen Gründen.“

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Über so viel Samt und Seide und Blumen aus Tüll fällt es schwer, nicht zu vergessen, dass Bürgel gerade mit "Aus fernen Welten" eine unglaubliche Menge von handfestem Wissen über den Kosmos mitliefert – aber eben immer anschaulich, immer „bedeutsam“. Viel Mühe gibt er sich zum Beispiel, Entfernungen, Zeiträume, Größenverhältnisse im Kosmos verständlich zu machen, weil er weiß, dass Zahlen den Leser kalt lassen. Wiederholungen scheut er da nicht, im Großen wie im Kleinen. Der „Sinn“ des Ganzen kommt ohnehin immer auf den gleiche Refrain: Der Kosmos so groß, wir so klein und zu Unrecht so kess: „Stellen wir uns nun einmal vor, wir hätten einen Arm, der bis zur Sonne reicht, und hielten nun den Finger in das Glutmeer jener Weltkugel. 35 Jahre später würden wir erst den Schmerz wahrnehmen, denn so lange hätte das Nerventelegramm zu tun, um die 20 Millionen Meilen lange Strecke zu durchschwirren.“ Gerade solche verständlich gemachten Entfernungsangaben weisen auf einen didaktischen Grundzug Bürgels (vermutlich des erzählenden Sachbuchs überhaupt): Die Inszenierung von Bewegung. Bürgel liebt es zu wandern, um dabei alles Mögliche zusammen mit dem Leser zu entdecken. Meist findet er einen leibhaften Gesprächspartner, dem er sokratisch auf die Sprünge hilft. Er geht mit dem Leser gern ins „Labor“, also an die Entstehungsstätte von Wissenschaft, im Fall der Astronomie ins Observatorium. Wie in seinen Führungen an der Volkssternwarte in Berlin zieht er von Gerät zu Gerät, lässt den Leser bei der Arbeit zu-sehen, auch ein Gang durch die Geschichte dient dazu, das Entstehen einer Entdeckung, einer Forschung unmittelbar mitzuerleben. Mit Bürgel fliegt man durchs All, und wenn man stillsteht, gibt es die Fingerzeige, denen die Augen des Lesers folgen sollen. Sein dauernder Standpunktwechsel von der Menschenperspektive zur kosmischen, von der Mikro- zur Makroperspektive oder vom Bakterienapfel zur Erdoberfläche gehorcht dieser Didaktik: bloß keine Statik, keine Brocken vorwerfen, nichts, dessen Entstehung man nicht mit eigenen Augen mitgemacht hat. Je unvorsehbarer die Assoziationssprünge bei diesen „Führungen“ sind, umso unentbehrlicher wird freilich deren Produzent – man erinnert sich an Lawrence Sterne. Als bewegter Beweger führt Bürgel von Einsicht zu Einsicht und profiliert nebenbei sich als Autor, als Autorität.

Und noch etwas spielt mit. Man könnte von Paranimbus sprechen, einer Autorität des Autors, die sich aus Nebenschauplätzen jenseits der Buchseiten ansammelt. Heute ist es das Fernsehen, früher waren es die Vorträge und eben die „Feuilletons“. Von beiden hatte Bürgel mehr als genug zu bieten. Auf solche Autorität, moderner formuliert: Prominenz, durfte sich der Leser verlassen, noch bevor er das Buch aufschlug.
Nun baut sich der „prominente“ Autor im Text auf als humorvoller, bilderreicher, geschickt lenkender, Pausen gönnender, bescheidener, aber stets souveräner Führer durch eine fremde Welt, die er im Gegensatz zu uns offenbar sehr genau kennt, die ihm viel bedeutet und deren Botschaft er weiter tragen möchte. Ohne viel ICH zu sagen, ohne mit dem Finger auf sich zu deuten, entsteht in keiner Zeile ein Zweifel, dass hier nicht der Geist der Erzählung erzählt oder der Sachverhalt. Hier erzählt eine Persönlichkeit von ihren Erfahrungen, und das beachtliche Wissen, das der Autor ausbreitet, ist immer nur Sprungbrett zur Erfahrung auch des Lesers.
Auch die zahllosen Beispiele, Metaphern, Bilder, Vergleiche, Anekdoten sind wohl Hilfs-mittel zur Übersetzung der naturwissenschaftlichen Sachverhalte in des Lesers Welt; zugleich halten sie das Bewusstsein wach, dass hier ein kluger, wenn nicht gar weiser Übersetzer am Werk ist. Ein Wissender, ein Poet. Ein Weisheitslehrer.

5
Zwei Berufsbezeichnungen für sein Schreiben hat Bürgel lieber gehört als Naturwissen-schaftler: Dichter oder Philosoph. In der Tat hat sein Anspruch, den Leser zum Staunen zu bringen, noch letzte Anklänge an die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts. Staunen als Gefühl, als Betroffenheit, aber keineswegs als Duselei, vielmehr immer mit einem ernsten existenziellen Unterton: freilich säkularisiert – nur noch philosophisch, nicht mehr religiös. Bürgel predigt gern, aber ohne Talar, eher mit dem Bratenrock des Dorfschulmeisters.
Auch seine zur Zeit des Nationalsozialismus gedruckten Bücher sind voll salbungsvollem Pazifismus, dem ausdrücklichen Gedanken der Völkerversöhnung, der unverhohlenen Antikriegseinstellung und dem allgegenwärtigen Appell zur kosmischen Bescheidenheit. Dass das in einer Zeit des Rassismus, der Kriegstreiberei, der Eroberungsgier durchaus nicht „linientreu“ war, versteht sich. Trotzdem hat Bürgel offenbar unbehelligt publizieren können. Vielleicht, weil er um diese Zeit bereits zur Ratgeberinstitution der Nation geworden war. Seine zahllosen Zeitschriften- und Zeitungsfeuilletons – die seine immerhin fleißige Buchproduktion gewaltig überwuchern –, mögen dazu beigetragen haben. Er war ja selber zum Kronzeugen jener von ihm propagierten Volksbildung geworden: vom unehelichen Schuster zum anerkannten Schriftsteller. Aufstieg ist, Bürgel beweist es, möglich.
Im Potsdamer Bürgelarchiv lagern hunderte von Briefen, die an ihn in der Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben worden sind. Darunter sind solche, die eindeutig „wehrkraftzersetzend“ klingen; dergleichen hätte man ihm nicht zu schreiben gewagt, wenn man ihn nicht als Gleichgesinnten eingeschätzt hätte. Die ohnehin bescheidene Literatur über ihn wird in dieser Hinsicht nicht deutlich. Es gab wohl Eingriffe in seine Texte, vor allem in seine Autobiografie. Gegenüber der ersten Auflage von 1919 musste die von 1935 den Untertitel ändern. Aus der "Lebensgeschichte eines Arbeiters" wird nun reichlich pathetisch "Der Aufstieg eines Lebenskämpfers". Es gab einige Striche, einige Ergänzungen. Auch an das Vorwort musste oder wollte Bürgel Hand anlegen. Da hat ihm vor allem eine Passage hinterher doch einigen Verdruss eingebracht: „Unter einer mit geballter Energie geladenen Führung versucht das junge Deutschland mit großer Kühnheit, mit zum Teil ganz neuen weltanschaulichen Ideen den Weg nach aufwärts zu gewinnen.“
Das ist nun nicht gerade O-Ton Bürgel. 1947 jedenfalls, dazu gibt es ein Schreiben Bürgels an den Dietz-Verlag, ist es ihm ein Schandfleck, den er reinwaschen möchte. Allerdings trägt er deutlich zu dick auf, wenn er behauptet: „Ich blieb, der ich war, sehr bald erkannte man das ‚oben’, man bewilligte kein Papier mehr für meine Bücher; ‚Bürgel ist nicht mehr tragbar!’ wurde im Propagandaministerium 1939 gesagt, als man Papier für meine Bücher anforderte.“ Dies kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass er zwischen 1930 und 1945 einen Großteil seiner Bücher publiziert hat. Zweifelsfrei war Bürgel von Jugend an entschiedener Sozialist, wenn auch nie dogmatisch und schon gar nicht kämpferisch. Die soziale Schicht, der seine Lebensarbeit galt, glorifizierte er dabei keineswegs, wie ein kritisches Kapitel in seiner Autobiografie beweist. (19) Man müsste genauer zusehen, ob er in seiner sanften, bescheidenen Weltanschauung zwar kein strammer Volksgenosse war, ob er aber gerade damit, mit seiner im Grunde unpolitischen Meditation über das Ferne, das Kleine, das Erstaunliche und anderes, das zu Herzen geht, von mancherlei ablenkte und eben harmlos war für das System.

Festzuhalten ist, dass Bürgel die Erbschaft der großen Prediger der Naturwissenschaft aus dem 19. Jahrhundert, Büchner etwa, Haeckel, Vogt usw. ins 20. Jahrhundert trägt. Das tut er allerdings keineswegs mehr so antiklerikal, wenn auch nicht religiös. Und wenn schon – heute nennt man das „spirituell“ –, dann eher in einer Memento-mori-Attitüde, die des Menschen Belanglosigkeit und Vergänglichkeit immer und immer aufs Neue betonte. Vergehen und Entstehen und wieder Vergehen auch im Kosmos.
Heute ist Bürgel nicht nur aus dem Bewusstsein, sondern auch vom Markt verschwunden. Da helfen auch mancherlei Namenspatronagen für Schulen und Ministernwarten nicht weiter. Die kleine, andächtig geführte Gedenkstätte in Potsdam gibt sich Mühe. Aber die öffentlichen Bibliotheken haben keine Bücher mehr von ihm in den Regalen und im Antiquariat findet man sie in den besonders billigen Ramschkisten. Sein gescheiter, anschaulicher, liebevoller Reiseführer durch den Kosmos Aus fernen Welten jedenfalls hat das nicht verdient.

zuerst in: Non Fiktion, Heft 1 2006