Sonntag, 6. Dezember 2015

Richtig lesen?


Ich tu’s schier unausgesetzt und stocke, wenn ich mir selbst die Frage stelle, ob ich es richtig mache. Richtig? Gibt es nicht viele Arten zu lesen, auch für mich? Eigentlich favorisiere ich nur die eine: konzentrierte Lektüre, die mir hilft, möglichst viel vom Text zu verstehen und im Gedächtnis zu behalten. Drei gewaltige Forderungen, man möchte fast nicht glauben, dass unter solchen Gesichtspunkten Lesen auch noch Spaß macht. Drei Ideale und alle sind meist nur annähernd zu erreichen.

Schon die Konzentration; nicht selten ertappe ich mich beim Überfliegen, beim hastigen Voranstolpern, beim Überspringen. Das sollte eigentlich sogleich Signal für eine Störung sein: dass ich körperlich schon zu ermüdet bin, dass es mir an Verständnis für den Text mangelt, ich keinen Zugang zu ihm finde und nach Stellen suche, bei denen ich wieder Fuß fassen könnte. Ein wichtiges Indiz für eine Inkongruenz, für eine Fremdheit zwischen mir und dem Text.

Das Verstehen: freilich ein asymptotischer Vorgang, ein Prozess, dessen Abgeschlossenheit man schwerlich abschätzen kann. Jedenfalls setzt er wiederholte Lektüre voraus, dreimal mindestens. (Beim ersten mal jagt man nur dem Ende zu: wie geht es aus? Beim zweiten mal gewinnt man schon Einblick in die Gesamtarchitektur, ab dem dritten mal werden Binnenstrukturen, Schönheitsinseln, stilistische Kostbarkeiten, auch Inkonsequenzen sichtbar usw.) Was man versteht, hängt natürlich davon ab, was man schon weiß und zur Verfügung hat. Also literaturwissenschaftliches Handwerk, Kenntnis der Literaturgeschichte(n), der realen Geschichte außerhalb des Buchs. Eigene Menschenkenntnis lässt die Plausibilität der Figurenzeichnung abschätzen, eigene Lebenserfahrung lässt auch, was im Roman fehlt als Lücke erkennen, auch hier: und so weiter.

Kommt die dritte Forderung an „hochwertiges“ Lesen: nicht gleich wieder alles vergessen,- das Feld der bittersten und unleugbarsten Enttäuschungen. Man greift sich ein Buch aus der eigenen Bibliothek, um es „endlich mal“ zu lesen,- und es ist voller Bleistiftstriche, ja gar überfüllt mit Anmerkungen. Und beides, den Buchinhalt wie die damaligen Lesenotizen hat man vergessen. Was hier schwarz auf weiß auf dem Papier steht, in meinem Kopf ist es ausradiert.

Ich bin Sammler, nicht nur von eigenen Büchern, mehr noch von Motiven, heute spricht man lieber von Thematologie als von Motivgeschichte. Lassen wir terminologische Pedanterien beiseite: ob ein Stoff, ein Motiv, ein Thema, eine Iconografie vorliegt oder sonst was, ich freue mich, wenn ich etwas lese, das ich auch schon in einem anderen Buch behandelt gefunden habe. Nun kann man vergleichen und findet gerade durch den Vergleich beim einzelnen Werk mehr Gesichtspunkte, als wenn man es nur für sich gelesen hätte.
Natürlich sind aus der zahllosen Menge möglicher Motive oder Themen einige für mich besonders interessant, zur Zeit vor allem die „Verführung“, weil ich dazu Material sammle.
Doch ich wollte allgemeiner bleiben bei meiner Frage, nach dem „richtigen“ Lesen. Eine besonders ergiebige Methode, die eigene Lektüre reichhaltig zu machen ist das Gespräch darüber. Als echter Dialog mit einem anderen Leser,- auf dem gleichen Niveau des Könnens und Wollens, versteht sich. Aber auch der Monolog, das Selbstgespräch mit sich ist noch eine ergiebige Quelle der Ernte von Lesefrüchten. Sich schriftlich Rechenschaft zu geben, was man bei der Lektüre alles wahrgenommen hat, worum es nach der eigenen Einschätzung überhaupt geht, aber auch: was rätselhaft blieb, unplausibel und gar inakzeptabel. All das nimmt Kontur an, ja wird allererst aus der Flüchtigkeit der Lektüre heraus gemeißelt, wenn man sich dazu Notizen macht. So gehört wohl zum richtigen Lesen auch das wache Schreiben. Sicher ein Positionswechsel: wenn der Leser mit auf der Bühne steht, sitzt der Kritiker im Parkett; dort hat er obendrein die Doppelrolle der Kritik des Buchs und der Kritik seiner Lektüre am Hals.

Eine dritte Rolle sollte man sich nicht entgehen lassen: die des Übersetzers der Lektüre zurück ins eigene Leben. Das bringt freilich neue Fragen ins Licht, die sich unter Umständen in psychologischem Filigran verlieren. Ist es doch schon undurchschaubar genug, wie es geschieht – dass es das tut steht für mich außer Zweifel -, dass man beim schreibenden Rekapitulieren seiner Lektüre viel hinzu gewinnt. Es ist als ob man die en gros heraus gelöste Brocken der Lektüre nun kleiner klopfte, gar auflöste, um sie sich einzuverleiben. Ein Bild, aber es dürfte stimmen.

Und wenn es auch einen Verlust brächte? Liebe machen und danach darüber schreiben sind ja auch zwei verdammt unterschiedliche Paar Stiefel. Könnte es sein, dass die Reflexion die Lektüre verwässert, dass der Geist des Textes, den man in sich einrauschen ließ nun, zieht man ihn auf Flaschen, „umkippt“? Schreibend muss man einsortieren, in Kästchen zwängen, in das Korsett der eigenen Sprache zwängen, was bei der Lektüre wie die Landschaft am Zug vorbei strömte. Sicherlich, wenn die zwei Zeilen aus der Lexikoninhaltsangabe übrig bleiben, wenn das eigene Erleben mit dem Text nicht zum Zug kommt, dann: Buch ade.
Das ist natürlich schon minutiös erforscht; ich weiß davon leider fast nichts. Aber ich beharre: „begreifen, was ergreift“, sich Rechenschaft über die Leseerfahrungen, Leseerlebnisse zu geben, bringt mehr Gewinn als Schaden. Es gehört zum „richtigen“ Lesen dazu.
Georg Eichinger


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