Grossen
Kunstwerken sagt man nach, sie vertrügen es, mit zweierlei Augen betrachtet zu
werden. In der Tat bringt der Goldne Topf den Bleistift des Gelehrten – was
gäbe es da nicht alles anzumerken, nachzuweisen, herbeizuzitieren – nicht
weniger in Bewegung als die Phantasie des Lesers auf dem Sofa. Gleichwohl fällt
es nicht leicht, das Vergnügen dessen zu erklären, der die Unzahl
mythologischer und anderer Anspielungen der zwölf Vigilien nicht beim Namen
nennen könnte. Zudem: wenn ein Märchen mit so genauen Angaben über Zeit und Ort
anfängt und auch sonst nicht spart mit pünktlicher Genauigkeit der Schilderung,
muss man da nicht bangen, es möchte den Sprung vom Alltag ins Zauberreich nicht
mehr zuwege bringen? Dies Märchen will sich jedoch – der Untertitel deutet’s an
– den Zugang zur Wunderwelt nicht erschwindeln, indem es die wirkliche Welt
einfach totschweigt. Es will vielmehr anleiten, der „wirklichen“ Welt
skeptischer gegenüberzustehen, Zweifel an ihrer Endgültigkeit anzumelden und in
ihr selbst Anknüpfungspunkte an jene andere Welt aufzuspüren.
Hoffmann
bringt darin eine Entwicklung auf den Höhepunkt bei der schon seit geraumer
Zeit Dichter ihrer Fertigkeit aufgeboten hatten, die Übergänge zwischen
alltäglicher und zauberhafter Welt auf höhere Weise plausibel zu machen.
Hoffmann bietet mit Fleiß für jede Erscheinung stets eine doppelte Erklärung
an: eine hausbackene und eine phantastische; so kann der Leser sich’s
aussuchen. Die richtige Wahl zu treffen, nun, das soll eben dies Märchen
lehren. So ohne weiteres will das indes nicht gelingen.
Wenn
die ehrbare Bürgerfrau den Verdacht äußert, der junge Herr sei wohl nicht ganz
bei Troste, schrickt mit dem Helden der Leser zusammen, beide ertappt, sich am
helllichten Tag auf’s Träumen eingelassen zu haben. Solche schroffe
Überleitungen an Kapitelrändern oder auch gleich mehrfach in ein und dem selbem
Abschnitt holen Helden wie Leser abrupt auf den viel berufenen Boden der
Tatsachen zurück. Die „Realität“ behauptet ihr Recht, sie lässt es auf einen
Kampf ankommen, von kosmischen Ausmaßen, bei dem Himmel und Hölle in Bewegung
gesetzt werden. Doch was ist jener Kampf anderes als der Streit zwischen dem
Prinzip der Nüchternheit des praktischen Lebens und dem Prinzip des
Wunschtraums von der harmonischen Entfaltung aller Möglichkeiten in uns? Dass
sich auf diese Auseinandersetzung keiner ungestraft, keiner ohne Risiko
einlässt, weiß man aus Hoffmanns Leben: seinem Entsetzen vor den Erfindungen
der eigenen Phantasie; weiß man aus dem Schicksal vieler Künstler, die sich in
einer auf’s Nützliche bedachten Gesellschaft zum Herold des allgemeinen
Bürgerrechts im Wunderland machten, und dafür von dieser Gesellschaft in eine
Reihe mit den tollpatschigen Tagträumern, Berauschten oder gar Wahnsinnigen
gestellt wurden.
Von
daher gesehen ist Liebe im Goldnen Topf nicht das übliche Gewürz für den
verwöhnten Gaumen des Lesers, sondern Kern und Antrieb des Ganzen,
unentbehrliches Band zwischen den Welten. Liebe lehrt mit anderen Augen sehen,
von Liebe beschwingte Tagträume, kühnes Phantasieren quer zur Wirklichkeit, das
wäre die rechte Haltung, meint Hoffmann, um vom Alltäglichen eine Brücke in die
Wunschwelt zu schlagen. Zwar: Liebe macht blind – sagt der Philister, der die
Sehnsucht nach einer schöneren Welt zu kurieren meint, wenn er dem Hintern
Blutegel appliziert. Seine Lieblingsfarbe ist denn auch das Aktengrau, er will
das Feuerwerk der Farben, Düfte und Klänge säuberlich hinter Buchdecken gebannt
wissen: als Romanpossen zum Zuklappen und Wegstellen, wenn Gefahr für’s
Funktionieren der bürgerlichen Geschäfte entstünde. Der Liebende aber, der
Dichter: sie wagen’s.
Georg
Eichinger (2.7.1969)
E.T.A.
Hoffmann: Der Goldne Topf